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Heaven 17 – Wiegenlied des Fortschritts

'Es gibt einen elementaren Unterschied zwischen pleasure und Hedonismus. Doch reiner Hedonismus enthebt die Menschen vom Denken. Wir glauben jedoch fest daran, daß sich die Dinge ändern werden.' (Martyn Ware)

Wären die Neunziger nicht die Zeit des Ewig-Wiederkehrenden, und hätte sich in den vergangenen Jahren nicht so mancher Begründer oder Teilhaber einer pop- oder rockhistorischen Bewegung zurückgemeldet, dann gäbe ein weiteres Heaven 17-Album kaum Anlaß zu wilden Spekulationen. Möchten Sie mit 'Bigger Than America' in letzter Minute auch noch auf den Zug des über uns hinwegfegenden Britpops aufspringen? Sind die Unzufriedenheiten mit der eigenen Entwicklung, die 1988 zum Entschluß einer längeren Pause führten, über die Jahre verblaßt? Wie soll man sich heutzutage eine Band vorstellen, deren yuppieeskes Auftreten aufs engste mit den 80er Jahren verbunden war?

Als ich dann in einem sonnigen Biergarten drei Herren um die 40, gekleidet in zeitlos eleganten, schwarzen Anzügen gegenübersaß, kam es mir so vor, als hätte ich, statt das Flugzeug nach München zu nehmen, eine Pop-Zeitmaschine bestiegen und wäre per Zufallsgenerator im Jahre 1981 gelandet. 'Es war eine wunderbare Zeit, als 'Penthouse And Pavement' erschien, doch schon wenig später wurden wir vom Wirbelwind der Popularität davongetragen. Es war sehr merkwürdig', meint Sänger Glenn Gregory besonnen.' Unweigerlich watet man mit einer Band wie Heaven 17 knöcheltief in englischer Popgeschichte. Ihr Anteil daran erfüllt sie auf eine sehr sympathische Art mit Stolz. Doch statt dem bereits zur Gewohnheit gewordenen großmäuligen Gestus eines Noel Gallagher wirken Heaven 17 nachdenklich aber selbstbewußt. Mit einem Akt der Selbstreflexion kehren Sie nun mit 'Bigger Than America' zu den Ursprüngen Ihrer eigenen Geschichte zurück.

Ian Craig Marsh: 'Ich glaube, daß wir die Pavement-Seite von 'Penthouse And Pavement' nie richtig ausgeschöpft haben. Das Album war eine Art Straßenkreuzung, und es gab zwei Wege, denen wir folgen konnten. Damals hatten Martyn und ich gerade Human League verlassen. Dort gab es eine bestimmte Politik, elektronische Instrumente zu nutzen. Wir wollten uns wirklich von dieser Politik abgenzen und benutzen bereits auf der Penthouse-Seite richtige Musiker mit richtigen Instrumenten. So kam es, daß wir über die Jahre immer mehr mit Musikern zusammenarbeiteten.'

Martyn Ware: Auch wollten wir andere musikalische Gefüge und Stile ausprobieren. Ich glaube, wir sind diesen Weg bis zum Ende gegangen, und darin liegt auch der Grund, warum es nach 'Teddy Bear, Duke & Psycho' 1988 auch enden mußte.

Die Idee, wieder mit analogen Synthesizern zu arbeiten, kam Martyn Ware, als er das Erasure-Album 'I Say I Say I Say' produzierte: 'Ich hatte wirklich vergessen, wie sehr ich diese alten Sounds liebe. Es machte Spaß, an diesen Punkt zurückzukehren und zu schauen, was wir mit dieser doch sehr speziellen Art von Tönen erschaffen können.'

Nach und nach wird deutlich, daß ihr erneutes Auftauchen nichts Zufälliges hat. Hinter 'Bigger Than America' steht ein klares musikalisches Konzept und vorausgreifende Überlegungen zu einem gegenwärtigen Heaven 17-Selbstverständnis. Martyn Ware:' Wir konkurrieren nicht mit der neuen elektronischen Musikavantgarde. Wir schreiben Popsongs, weil wir Pop lieben. Musikalische Moden interessieren uns nicht, und niemals würden wir eine Platte machen, nur weil sie sich gut verkaufen könnte. Unsere Absicht ist es, etwas Zeitloses zu schaffen, das sich auch noch in drei oder vier Jahren gut anhört. Ehrlich gesagt, denke ich, daß man unsere ersten beiden Platten ('Penthouse And Pavement', 1981 und 'The Luxury Gap', 1982) heute spielen kann, und sie klingen sicherlich weder aktuell noch old-fashioned. Zu sagen, wie Leute unsere neue Platte empfinden werden, steht jedoch nicht in unserer Macht. It’s just our taste in music.'

Aber Heaven 17 wäre nicht Heaven 17, wenn sich die Dankbarkeit nur aufs Musikalische beziehen würde. Sein Parteibuch der Labour-Party hat Martyn Ware über all die Jahre nicht abgegeben, doch Fragen nach den neuen Entwicklungen bei Labour und Tony Blair geht er lieber aus dem Weg und äußert sich statt dessen ausführlich zu den katastrophalen Auswirkungen der Tory-Politik. Somit möchten sie auch ganz ihrer eigenen Tradition entsprechend das neue Album politisch verstanden wissen. Hinter dem angriffslustigen Titel 'Bigger Than America' steht kein neuer englischer Nationalismus, sondern eher ein Sinnbild für das uns umgebende vielschichtige Gefüge von Machtverhältnissen. Martyn Ware: 'Wir sind Antinationalisten, und deshalb greifen wir Amerika an. Sie 'verkaufen' ihren Nationalismus an ihre eigene Bevölkerung und an den Rest der Welt. Amerika schreibt der Welt vor, wie sie zu sein hat.'

Das Äquivalent ist erstaunlicherweise nicht der Titelsong, sondern 'The Big Dipper'. Der nationale 'Amerikanische Alptraum' nähert sich vor dem Hintergrund einer düsteren Bassline und einem elektronischen Melodieteppich seinem Ende: 'Miss America lost her crown, the king of Hollywood is dead.' Parallel dazu geht es ihnen um die virtuelle Realität selbst erschaffener Glückseligkeit, welche 'Designing Heaven', die erste ausgekoppelte Single, als makabren Kommentar zur postmodernen Welt erscheinen läßt. Martyn Ware: ''Designing Heaven' ist kein pessimistischer Song'. Wir sind nicht zynisch, im Gegenteil, wir lieben die schönen Dinge im Leben. Es gibt einen elementaren Unterschied zwischen pleasure und Hedonismus. Doch reiner Hedonismus enthebt die Menschen vom Denken. Wir glauben jedoch fest daran, daß sich die Dinge ändern werden.'

Da sie nun vor einigen Wochen auf der Hochzeit eines Freundes die ersten gemeinsamen Bühnenerfahrungen gemacht haben, bleibt zu hoffen, daß die Idee, nach einer 15-jährigen Karriere zum ersten Mal auf Tournee zu gehen, nicht nur eine Biergartenlaune war.

Source: SPEX Nov. 1996 / Bigger Than America Release


Thanks to Volker Buettner for this text