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Foto: Anton Corbiju/Photoselection


Ära der Produzenten

Von Gerald Hündgen

SPEX September 1984


Foto: Anton Corbiju/Photoselection
Same procedure as last year. Eine Heaven-17-LP ist fertiggestellt und wird verschiedenen Medienmenschen zur Hörprobe gereicht. Danach stellen sich Glenn Gregory, Ian Craig Marsh und Martyn Ware zu Einzelgesprächen zur Verfügung. Wie schon im Jahr zuvor lasse ich mir Martyn Ware zuteilen, der allgemein als Sprechfreudigster der Gruppe gilt.

Vergangenes Jahr, kurz vor Veröffentlichung von »Luxury Gap«, stand es zweifelhaft um die Zukunft von Heaven 17 und der British Electrical Foundation - die erste LP »Penthouse & Pavement« war vor allem ein Achtungserfolg geblieben, die Verkaufskurve folgender Singles wies eher nach unten und die ambitionierte »Music of Quality and Distinction« ging bei Kritikern und Käufern gleichermaßen ein.

Nach »Luxury Gap«, den daraus veröffentlichten Singles und dem Erfolg des von Martyn Ware produzierten Comeback-Hits »Let's Stay Together« von Tina Turner sind Heaven 17 erstmal wieder obenauf. So hat sich denn die Perspektive von Martyn Ware verschoben. Damals ließ er seiner Kritik freien Lauf, weil er sich unverstanden fühlte; betrogen um den gerechten Lohn für gute Arbeit, präsentierte er sich als fast grüblerischer Außenseiter im Musikgeschäft.

Mittlerweile ist er um ein paar Pfunde reicher (auch optisch) und kann erst recht auftrumpfen - diesmal aus der Rolle desienigen, der's geschafft hat. Denn daran hat sich nichts geändert.- er laßt sich nicht beeindrucken. Errungenschaften sind zuerst einmal dazu da, weitergetrieben zu werden. Platten werden gemacht, wie Lebensmittel oder elektrische Geräte, und so hat man sie auch zu behandeln. Auch die eigenen.

Die neue LP wird vom FairlightComputer geprägt. Wir haben unsere technischen Fähigkeiten weiterentwickelt und wir waren dieses Mal auch erheblich länger im Studio als bei den beiden letzten LPs. Ich würde sagen, etwa sechs Monate, das Schreiben der Stücke nicht eingerechnet.«

Das einmalige Durchhören einer LP im Kreise von zehn Mitmenschen genügt sicher nicht, um sich ein wirkliches Urteil zu erlauben - insbesondere nicht bei einer Gruppe wie Heaven 17, deren Platten eine Vielzahl von Details und leich überhörbaren Einstreuungen aufweisen, die man überhaupt erst nach mehrmaligem Hören registriert. Dann schien es mir bei Heaven 17-Platten auch immer wichtig, sie in unterschiedlichen Umgebungen zu hören. Z. B. »Crushed By The Wheels of Industry« ist zuhause eine ganz andere Sache als in einer neuzeitlichen Diskothek. Allemal scheint mir die neue LP »How Men Are« launiger, beinahe romantisch im Vergleich zu den Vorgängern. Eine Menge lateinamerikanischer Rhythmen werden verwandt, ein großes Orchester spielt auf und von Funk ist kaum mehr was zu hören. Hier klingt alles viel weniger »synthetisch« als zuvor.

»Ich weiß nicht. Die erste Seite ist verhältnismäßig fröhlich und die zweite Seite eher nachdenklich, so wie wir allgemein unsere Alben strukturieren. Sicher, wir haben mit einem ziemlich großen Orchester gearbeitet auf einigen Stücken. Aber eigentlich ist alles nur eine Weiterentwicklung der letzten Platten. Der Sound mag anders sein, aber die Thematik ist die gleiche. Wir setzen uns auch nie vorher hin und meditieren, was wir nun machen wollen. Wir verfolgen niemals bewußt irgendwelche Trends. Ich glaube, es gibt Gruppen, die Trends definieren und es gibt Gruppen, die ihnen nachlaufen und ich möchte annehmen, daß wir zu ersteren gehören. Vielleicht hat uns das in der Vergangenheit geschadet, weil wir deshalb den wesentlichen profitabwerfenden Teil des Marktes nicht abgedeckt haben. Wir waren wohl 18 Monate der Zeit voraus oder sowas. Wenn wir heute nichts anderes als kommerziell sein wollten, dann würden wir Funk spielen, jeder Sterbliche macht das- ja jetzt. Aber es wird doch ein bißchen langweilig mit der Zeit. Wir werden einfach besser, bei dem was wir machen. In der Vergangenheit schienen unsere Platten deshalb kühl und logisch, weil wir, offen gesprochen, noch lernten, wie man überhaupt Songs schreibt. Auf dieser Platte sind einfach bessere Songs mit weniger offensichtlichen Strukturen. Als Folge davon ist es nicht mehr so mechanisch. Ich denke doch, daß das eine gute Sache ist. Auf jeden Fall war das eine der Sachen, die wir erreichen wollten, wegkommen von den herkömmlichen Pop-Song-Strukturen, Und, technisch gesprochen, klingt die Platte viel besser, sie ist extrem HiFi«

Viele Stücke auf »How Men Are« schreien eigentlich nach Aufführung auf der Bühne.

»Oh ja, aber wir worden das ganz sicher nicht machen. Ich meine, wir sind gar nicht puristisch, was das angeht, außer daß für uns im Moment alles bestens läuft. Ich wäre dann sicher nicht mehr in der Lage andere Produktionen zu übernehmen, wenn wir Touren machten. Wir brauchen zwischen 7 und 8 Monate für Heaven 17 und die restlichen 4 oder 5 Monate möchte ich mir für verschiedene andere Arbeiten freihalten und die anderen brauchen soviel Zeit als Urlaub.«

Wer ist denn auf die Idee gekommen den alten Al Green-Klassiker »Let's Stay Together« von Tina Turner als Single aufzuneltnen?

»Das war meine Idee. Ich hatte ein Band aufgenommen mit etwa 10 Stücken. ,Let's Stay Together' war mein Favorit und Tina Turner war derselben Meinung. Perfekt.«

»Schon für »Music of Quality and Distinction« hatte Nlartyn Ware mit Tina Turner zusammengearbeitet, als man das Temptations-Stück »Ball of Conftision« aufnahm. Ist er diesmal anders an die Aufgabe gegangen, eine Cover-Version eines Standard-Stücks mit einer bekannten Sängerin aufzunehmen?

»Eigentlich nicht, oder doch. Ich mag,Ball of Confusion'immer noch, aber diesmal haben wir es besser gemacht, weil wir, Let's Stay' behandelt haben, als wenn es ein ganz neuer Song wäre und es überhaupt kein Original vorher gegeben hätte,

Außer Tina Turner hat er noch Billy McKenzies (Ex-Associoates) letzte Single produziert. Eine weitere Platte von einem bislang - unbekannten amerikanischen Songschreiber und Sänger Jeff Levi wird vermutlich nächsten Monat erscheinen, die auch von Martyn Ware produziert wurde.

Foto Wolfgang Braut»Noch verschiedene andere verrückte Sachen sind an uns herangetragen worden, eine davon ist Bette Midler, die sich nun endgültig entschieden hat, Pop-Sängerin zu werden. Dann ist die Rede von Aretha Franklin, aber da gibt es noch keine endgültige Bestätigung. Das würde ich gerne machen. Man hat uns auch Nina Simone angeboten. Aber nachdem ich ein Interview mit ihr im Radio gehört habe, macht sie auf mich einen leicht senilen Eindruck. Sie ist eine phantastische Künstlerin, aber es muß äußerst hart sein, mit ihr im Studio zu arbeiten.«

Was ist eigentlich aus der schon seit langem geplanten Solo-LP des Heaven 17 Bassisten John Wilson geworden?

»John geht es nicht gut. Er hat nämlich verschiedene Allergien und deshalb ziemlich an Gewicht verloren. Als Folge davon, konnte er selbst an unserer LP nicht in dem Maße mitarbeiten, wie wir uns das gewünscht hätten. Ich habe die Hoffnung immer hoch nicht völlig aufgegeben, daß wir die Platte mit ihm machen, weil er wirklich ein ungeheures Talent ist. Aber wir haben eine Solo-LP mit unserem Tastenspieler Nick Plytas fix und fertig. Aber niemand will sie bisher veröffentlichen.«

Wenn er die Wahl hätte, mit welchen drei Gruppen oder Sängern würde er gern ins Studio?

»Erstmal mit Michael Jackson.«

Und Martyn Ware würde bessere Arbeit leisten als Quincy Jones?

»Ob ich bessere Arbeit leisten würde, weiß ich nicht, aber ich würde was anderes machen. Man kann ganz sicher nicht über seine technische Brillanz streiten, aber ich habe den Eindruck, daß er Michael Jackson in eine zweifelhafte Richtung drängt. Die Arrangements halte ich doch für einigermaßen starr. Die neue LP hört sich für mich nach einer Wiederholung der alten Stücke an. Michael Jackson könnte ein bißchen frischer Wind nicht schaden. Allgemein gesprochen erreichen die amerikanischen Produzenten einen exzellenten technischen Klang, aber irgendwie fehlt es ihnen an Inspiration, während eine Masse britischer Produzenten voller Ideen stecken, aber mit der technischen Umsetzung hapert es. Dann würde mich Aretha Franklin reizen. Und David Bowie, aber ich glaube, der interessiert sich überhaupt nicht mehr für's Musikgeschäft. Vielleicht noch Bryan Ferry.«

So eingebildet, von einem Martyn Ware-Sound zu reden, ist er nicht, dazu sei er noch zu sehr Neuling. Und dann darf man auch die Bedeutung eines weiteren Heaven 17-Mitstreiters Greg Walsh nicht unterschätzen, der die eigentliche technische Seite der Studioarbeit übernimmt und Martyn Ware freie Hand läßt, sich ganz den jeweiligen Künstlern zu widmen.

»Die Hälfte der Arbeit bei der Produktion besteht darin, den Künstler in die Lage zu versetzen, seine Arbeit zu machen. Wie oft sind die Leute bestürzt, daß sie auf einmal nicht fähig sind, die simpelsten Gesangsphrasen oder Gitarrenläufe zu bringen. Und dann ist es von Vorteil, wenn sie wissen, daß der Schreihals auf der anderen Seite der Glasscheibe weiß, was in ihnen vorgeht.«

Am Anfang von Heaven 17, stand die Idee Popmusik als Produkt und sich selbst als Konstrukteure darzustellen. Damals war die Präsentation auch guter Popmusik als Resultat von Arbeit und nicht göttlicher Eingebung noch von aufklärerischem Wert. Heutzutage hat sie die Wirklichkeit mit ihren Trevor Horns und Steve Levines eingeholt, die ihr seinerzeit besonderes' B.E.F.-Projekt heute bloß zu einem Produktionsteam unter anderen macht. Der Produzent ist in einem Maße verantwortlich für die musikalischen Ergebnisse geworden, daß Gruppen und Sänger vielfach austauschbar scheinen.

»Das hat seinen Grund in der Techhologie, die heute zur Verfügung steht. Es gibt beispielsweise nur sehr wenige Leute, die wirklich richtig mit einern Fairlight umzugehen wissen. Es ist natürlich einfach, ihn einzuschalten und einen Ton herauszuholen. Aber ihn voll zu nutzen ist heute ein Spezialisten-Job. Als sie zuerst auf den Markt kamen, stellten die Vermieterfirmen mit dem Gerät einen Bediener zur Verfügung. Aber das ist doch was anderes als jemand, der wirklich kreativ damit umzugehen weiß. Ein Bedienungsfachmann setzt nur Wünsche genauestens um, aber so erfährt man selbst nie, was in einer solchen Anlage für Möglichkeiten stecken. Also wurde der Produzent immer stärker verantwortlich für das, was bei einer Platte am Ende herauskommt. Früher war die Studioarbeit aufgeteilt unter Songschreiber, Arrangeur, Toningenieur und Produzent, während heute all diese Rollen in einer Person zusammenfallen. Steve Levine z.B. ist praktisch verantwortlich für alle Arrangements von Culture Club. Und viele Musiker kommen heute mit einer sehr, sehr dürftigen Song-Idee ins Studio. Dazu fällt einem gleich Trevor Horn ein, der aus vielleicht drei oder vier Akkorden, le ihm jemand auf dem Klavier vorspielt im Handumdrehen ein höchst ausgetüfteltes Arrangement macht.«

Aber die Pop-Musik lebt doch, wie sonst nur der Sport, von dem Glauben, daß man es hier nur mit Talent und dem nötigen Willen zu was bringen kann. Tatsächlich wäre es heute aber nicht mehr möglich als junge Gruppe oder Sänger mit einer selbstproduzierten, unaufwendigen Single den Weg zu Ruhm und Reichtum einzuschlagen, da die Konzentration der Produktions-Mittel in den Händen weniger Groß-Produzenten, letztere in Zukunft verstärkt über das Wohl und Wehe aufstrebender Musiker entscheiden läßt.

»Das ist ganz einfach eine akzeptierte finanzielle Tatsache. Wenn eine Plattenfirma eine Gruppe verpflichtet, von der sie annimmt, daß sie annehmbare, rudimentäre Songs haben, dann ist es ganz klar, daß man eine Menge Geld in sie stecken muß, für Ausrüstung und um einen guten Produzenten zu bekommen. Grundsätzlich ist es ja immer so gewesen. Ich meine, wenn eine Plattenfirma an eine Pop-Gruppe glaubt, was zum Teufel Interessiert es da noch, ob sie live im Studio' was zuwege bringen, Tatsächlich ist es nur einfacher für den Produzenten geworden und nicht schwieriger für den Künstler. Was schwerer geworden ist, ist für eine Gruppe ins Studio zu gehen und selbst da zu arbeiten, ohne vorhergehende Kenntnis der Geräte, weil man heute natürlich in der Hand des Produzenten ist. Es ist einfach nicht drin, all das nötige Wissen in einer Woche oder ein paar Monaten sich anzueignen. Es findet heute eine ständige Weiterentwicklung der Software statt. ja, selbst die Hardware wird dauernd verbessert.«

Bei der Aufzählung der Leute, die er gerne einmal produzieren würde, fällt auf, daß es sich hierbei eigentlich nur um etablierte Kräfte handelt. Gibt's denn niemand unter den heutigen Musikschaffenden, der ihn reizen würde?

»Ich finde die Kane Gang ganz gut, wirklich gut. Abgesehen davon sieht's ziemlich trist aus, alles ist so uninteressant. Eine Menge der besten Musik heute kommt aus den Vereinigten Staaten, von schwarzen Künstlern.«

Von Anfang an sollte Heaven 17 mehr als eine Pop-Gruppe sein. Die sorgfältige Gestaltung des Images, die programmatische Natur der meisten Platten zielten doch auch darauf, Einfluß zu nehmen auf die Darstellung und Entwicklung von Pop-Musik insgesamt. Haben sie etwas verändert?

»Ich denke, daß wir es in einer subtilen Weise geschafft haben, sogar nicht mal besonders subtil. Ich denke, es ist kein Zufall, daß Two Tribes' so enorm erfolgreich ist, für mich hat es viel mit Fascist Groove Thang' zu tun, dem es eine Menge verdankt, was Thema und Herangehensweise betrifft, Natürlich ist es ein anderes Produkt. Oder man nehme das heutzutage so modische politische Bewußtsein bei einer Menge von Gruppen, ich glaube nicht, daß ohne uns, selbst Gtuppen wie Bananarama Zugang dazu gefunden hätten.«

Wie man sieht, erfüllt ihn seine Einflußnahme auf die Pop-Geschichte auch nicht ungetrübt mit Stolz. Die meisten anderen verlangen sich zuwenig ab, Nein eine Pop-Platte ist für ihn mehr als ein Einfall, dem man nur noch eine Portion Aura zusetzen muß, um ihn zum Hit zu machen. Es ist Arbeit, bei der einem nichts geschenkt wird und bei der man sich nichts schenken lassen darf.

»Eine gute Platte ist eine Gelegenheit sich ästethisch zu erftillen. Ich meine, es ist ein wirkliches Vergnügen, eine Platte hervorzubringen, von der du glaubst, daß sie das Beste aus deinen Fähigkeiten macht, die dauerhaft sein wird und die die Leute noch nach Jahren hören werden. Ich habe vor ein paar Tagen zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder Penthouse & Pavement angehört und sie klingt nicht alt im Vergleich mit den meisten Sachen, die heute angeboten werden, Es gibt heute so viele Platten, die man sich kaufen kann und die man nach drei Monaten wegwerfen will, Wir halten uns nicht an die naheliegendsten Einflüsse oder um es anders zu sagen, wir möchten gerne ein bißchen Subtilität in alles stecken, was wir machen. Das mag meist nicht auf Anhieb herauszuhören sein, aber die Leute werden immer mal wieder auf unsere Platten zurückkommen und dann hören, daß sich da eine Menge unter der Oberfläche abspielt. Wenigstens hoffe ich das und so konzipieren wir unsere Sachen auch.«

Im Unterschied zu den meisten Gruppen heute, z.B. Spandau Ballet, die vor allem Intuition und Beseeltheit für sich in Anspruch nehmen, sprechen Heaven 17 prosaisch von Fleiß und handwerklichem Können.

»Richtig. Spandau Ballet verkaufen eine Illusion. Sie bieten ein vergängliches, vorübergehendes, verschwindendes Flackern von Beseeltheit an. Wir bieten etwas anderes. Ich weiß nicht gcnau was, aber, ganz sicher, sobald man an der Oberfläche von Spandau Ballet kratzt, fällt das Ganze in sich zusammen. Soweit es mich betrifft, finde ich bei ihnen keine Substanz. Es ist wie Zuckerguß. Natürlich sind ihre Platten gut produziert, alles ist wie es sein sollte. Nichts ist störend, man könnte sie sich stundenlang anhören. Es ist das, was wir früher Tapeten-Musik genannt haben. Wunderbar ist das im Badezimmer zu hören, wenn man sich die Haare wäscht oder sowas. Es ist dasselbe wie Seifenopern oder andere Fernsehserien: sie sind ausgezeichnet gemacht, die Bilder sind scharf, die Farben satt, die Rollen gut besetzt, dennoch behält man am Ende von ihnen nicht mehr in Erinnerung, als das man sich die Zeit damit totgeschlagen hat, Und so sehe ich den heutigen Stand der Pop-Musik. Wham! sind dieselbe Angelegenheit.

Wenigstens veranlaßt die Musik von Spandau Ballet Horden von Menschen sich herauszuputzen und sich vielleicht einen Tag im Monat in der Disko als Aristokrat zu fühlen.

»Warum sollte man nicht dies haben UND etwas anderes. Die Leute können sich ja unsere Musik anhören, Sie könnten Nina Simone hören. Auf jeden Fall kleiden sich Spandau Ballet abstoßend schlecht.«

Martyn Ware befindet sich ganz sicher mit der Mehrheit der klugen Musikproduzenten und Konsumenten in Einklang, was seine harsche Kritik am gegenwärtigen musikalischen Output angeht. Da gibt es z.B. Paul Weller, der ...

Foto Wolfgang Braut»Paul Weller? Der läuft den Trends bloß hinterher. Er definiert sie ganz sicher nicht. In seinem ganzen Leben hat er niemals etwas Eigenständiges geschaffen oder nur Ansätze dazu gezeigt. jemand der über Jahre einer Mod-Band vorsteht und sich dann auf einmal entscheidet, Musik zu machen, die ihren Höhepunkt auch schon 10 Jahre hinter sich hat, kann von mir keinen Respket erwarten.«

Nun ist es ja nicht Paul Weller allein, der die großen Seelensuche angetreten hat. Von Carmel bis Sade scheint doch der Bedarf an menschlicher Qualität' vielleicht gerade gegenüber der Macht der Produktionstechnik - in der Musik immer größer zu werden.

»Wie definiert man denn z.B. Soul? Wenn man es als Nachahmung einer Form der schwarzen Musik betrachtet, dann hat Paul Weller Soul. Wenn man es jedoch als eigene musikalische Integrität betrachtet, und das war es dochwohl, was diese ursprünglichen Soul-Sänger auszeichnete, dann hat Paul Weller dergleichen in seinem Leben noch nie gesungen, gesehen oder gehört. Eine Kunstform zu imitieren, ja nur über die Möglichkeit zu reden, ist für mich irrelevant, Das ist so billig. Falls ich heute eine junge, aufstrebende Gruppe hätte und es mir ganz zynisch um nichts als den Erfolg ginge, dann könnte ich an nichts Näherliegendes denken, als die Isley Brothers zu beklauen, weil sie einfach wunderbare Songs hatten, Aber auch das wäre nichts anderes, als ein Artefakt Soul' musikalisch herzustellen, nicht echten Soul'. Es gibt sowenig echte Soul-Sänger im Moment und darunter keinen aus Großbritannien, von dem ich wüßte. Sade mag damit soweit gekommen sein, wie es hier möglich ist. Und doch ist sie nichts anderes als eine blasse Imitation. Da lache ich drüber.«

Und was Martyn Ware hier über ,Soul' sagt, gilt für ihn auch in Bezug auf alle anderen musikalischen Basis-Bewegungen, von The Smiths bis Cowpunk, die sich mit der Herrschaft der Synthesizer-Syndikate nicht abfinden wollen.

»Es ist doch immer schon so gewesen, daß die Leute die Musik, die jeweils aktuell gemacht wird, an den Maßstäben der Vergangenheit messen. Man muß sich immer vor Augen halten, daß die Menschen nostalgisch sind, Als Rock , n' Roll aufkam, haben dieselben Leute, die heute Synthesizer-Musik kritisieren, Rock 'n' Roll als armseligen Blödsinn abgetan, der sich keinesfalls mit den wunderbaren Melodien eines Frank Sinatra oder Tony Benett der vierziger Jahre messen ließe.«

Martyn Ware sieht sich in dieser Diskussion offenbar als wissenschaftlichen Sozialisten, der einer musikalischen Grünen Bewegung', die zurück will zu den überschaubaren Instrumentarien und menschlichen Ausdrucksformen, die Segnungen des Fortschritts und die Eröffnung neuer Möglichkeiten entgegenhält. Und obwohl ich mich dem grundsätzlich anschließe, habe ich oft meine Schwierigkeit bei ihm, den unterschied zum Technokraten zu sehen.

Leben wir im Zeitalter des Produzenten?

»Aber ja. Die Entwicklung der Technologie. Man nimmt Elvis Presley als gegebene Sache; man kann nicht rückgängig machen, was er gemacht hat. Und heute gibt es weitere Möglichkeiten, Musik von größerer Subtilität und grenzenloser Komplexität zu schaffen, wie jemals zuvor und so einfach wie niemals zuvor. Aber es wird immer Leute geben, die sagen werden, daß das den wahren Inhalt von Musik zerstört. Weil sie nämlich in Wirklichkeit ihr Ideal im König des Skiffle Lonnie Donegan sehen. Nochmal- es lohnt nicht mal darüber zu reden. Entweder blickt man vorwärts oder man versucht die Vergangenheit zu imitieren. Oder wenn man schlau ist, macht man beides - so wie wir.«

Foto Wolfgang Braut

Aber es ist ja nicht allein die musikalische Form, die die Leute wehmütig zurückblicken läßt, sondern auch die Aggression und Rebellion, die man traditionell mit populärer Musik verband.

Natürlich. Frankie Goes To Hollywood ist das ehrlichste und lebendigste Beispiel dafür. Und es zeigt, wie es immer war, die sogenannte Teenage-Rebellion ist eine ständige Wiederholung. Als Elvis anfing, erschütterte er die Leute, weil er seine Hüften kreisen ließ, heute sind die Leute ein wenig erschüttert, wenn jemand sich als englische Village People gibt.

Paul Morley, einer von Heaven 17s frühesten Bewunderern, Debatten-entfesselnder Pop-Journalist und heute im kreativen Bereich von Frankies Plattenfirma ZTT tätig, hat anläßlich von Relax' behauptet Homosexualität sei das noch verbleibende Tabu, an dem sich Pop-Musik noch entzünden kann.

»Das ist doch kein Tabu, oder? Es ist nicht mehr tabu als Boy George. Eben so ein Tabu, über das man in aller Öffentlichkeit reden kann. Kinderschändung oder Sodomie, das nenne ich Tabus, Aber der Grund, weshalb Boy George ein solch phänomenalen Erfolg hat, abgesehen davon, daß er annehmbar, wenn auch uninspirierte Pop-Songs schreibt, liegt darin, daß die Menschen eitles Geschwätz lieben, Sachen über die man -reden kann, wenn man in einer Bar sitzt. Sowie meine Mutter auch jeden anspricht: Hast du diesen Boy George im Fernsehen gesehen? ja, ist das nun ein Mädchen oder ein Junge?' Diese Sorte von kleinlicher, nicht-kontroverser Kontroverse, das ist die Essence dieser sogenannten Rebellion. Wie unmodisch es auch immer gewesen sein mag, Hippie zu sein, ironischerweise haben sie vermutlich mehr verändert, als all die Kids, die heute mit Make-Up oder was weiß ich herumlaufen. Es gilt heute auch als nicht modisch tatsächlich die Dinge zu ändern. Es ist modisch sich den Anschein zu geben, man ändere was. Ich meine, zu protestieren ist eine Sache, aber etwas zu tun in konkreter Form ist eine andere Sache. Zugegeben, das ist sehr schwierig, aber die wenigsten Leute versuchen es überhaupt. Wir sind immerhin Mitglieder der Labour Party und von CND (Englands Atomwaffengegner); wir haben den streikenden Bergarbeitern Geld gespendet. Wenn man all die Sachen in der Öffentlichkeit kundtut, begibt man sich in eine schwierige Position, weil man einerseits zwar diesen wichtigen Anliegen Publizität verschaffen will, andererseits aber Gefahr läuft, daß die Leute das als Publicity-Manöver abtun. Man muß das miteinander abwägen. Deshalb versuchen wir damit sowenig Aufhebens wie möglich und nötig zu machen.«